Mahlers musikalisches Testament

Zum doppelten Mahlerjubiläum 2010/11 warteten die großen wie kleinen Labels mit unzähligen Neueinspielungen und Remakes seines sinfonischen Werkes auf; darunter fand sich Gelungenes, Überflüssiges und schlichtweg auch Unnötiges. Eine echte Überraschung bot jedoch das englische Label ›Testament‹ mit der Erstveröffentlichung von Deryck Cookes Genese der Aufführungsversion von Gustav Mahlers 10. Symphonie.

Von Gustav Mahler in unterschiedlichen unvollendeten Stadien hinterlassen, wies er seine Frau Alma an, die Skizzen und ausgeführten Particelle nach seinem Tode zu vernichten. Alma Mahler kam diesem Wunsch nicht nach, und bis heute streiten sich die Mahlerforscher, Mahlerdirigenten und Mahlerliebhaber über die Resultate der Skizzenverwertung. Ein gespanntes Verhältnis zu den Versuchen, dieses Werk für eine Aufführung einzurichten oder gar in verschiedenen Bearbeitungen vorzulegen, hat sich bis heute gehalten. So schwankte auch Alma Mahler zwischen der finanziellen Verwertbarkeit der vielleicht persönlichsten Skizzen Mahlers und der strikten – sicherlich unter dem Einfluss Bruno Walters getroffenen – Ablehnung jeglicher Rekonstruktionen und Aufführungen. Bis eine Rundfunksendung der BBC zu Mahlers einhundertstem Geburtstag im Jahre 1960 in diesem Fall Geschichte schrieb.

Innerhalb einer Sendereihe, die allen Symphonien Mahlers gewidmet war, hatte der englische Musikwissenschaftler Deryck Cooke die Idee, die als Faksimile vorliegenden Skizzen Mahler zum Erklingen zu bringen. Was im Auftrag von Alma Mahler der Komponist Ernst Krenek in den 1920er Jahren mit dem 1. und 3. Satz unternahm, wollten Deryck Cooke und der Komponist und Dirigent Berthold Goldschmidt ohne Rücksprache mit Alma Mahler mit dem 2., 4. und 5. Satz versuchen. Am 19. Dezember 1960 stellte Deryck Cooke als Autor, Sprecher und Pianist unterstützt vom Philharmonia Orchestra und Berthold Goldschmidt Mahlers 10. Symphonie so vor, wie sie von seinem Urheber hätte gedacht sein können. Cooke präsentierte an kleinen Beispielen mehrere Realisationsmöglichkeiten, immer mit dem Ziel, keine Rekonstruktion, sondern eine mögliche Aufführungsversion zu erstellen. Am Ende der Sendung erklang das komplette Werk, wobei Cooke die mangels unvollständigem Skizzenmaterial entstandenen Lücken im 2. und 4. Satz moderierend überbrückte.

Das Radiopublikum reagierte enthusiatisch auf die neuen Mahlerschen Töne, lediglich Alma Mahler ließ, als sie im fernen New York von dieser Schandtat hörte, weitere Rekonstruktionen und Aufführungen kategorisch verbieten. Mehrere Versuche, sie zum Hören der mitgeschnittenen Radiosendung zu überreden, scheiterten zunächst an ihren stets festen Überzeugungen; als sie sich schließlich widerstrebend auf Cookes Radiobeitrag einließ, war sie von dem Werk und der Art der subtilen Einrichtung so erschüttert, dass sie Cooke zur Weiterarbeit ermunterte und ihm weiteren Skizzen zur Verfügung stellt, die in der ursprünglichen Faksimile-Ausgabe nicht enthalten waren. Damit konnte der 2. Satz – zu dem ein vollständiges Particell existierte – völlig neu gefasst werden. Ebenso wurden die Lücken im 4. Satz geschlossen. Die vollständige Aufführung dieser Fassung fand während der London Proms statt, Berthold Goldschmidt dirigierte das London Symphony Orchestra.

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Auf den vorliegenden drei CDs werden sowohl die legendäre Radiosendung von 1960 als auch die ›Uraufführung‹ der kompletten Aufführungsfassung präsentiert. Die Ausstattung der Edition ist – wie immer bei ›Testament‹ schnörkellos: den drei CDs ist ein dreisprachiges Booklet (englisch – deutsch – französisch) beigegeben, das einen glänzend recherchierten und fundierten Text von Colin Matthews beinhaltet; einer der Mitarbeiter Cookes, der nach dessen frühen Tod weitere Verbesserungen an dieser Aufführungsversion vornahm. Einzig die sehr kleine Schrift trübt hier das Lesevergnügen.

Die erste CD (35.16) beeinhaltet auf insgesamt 39 Tracks Cookes Einführung samt musikalischer Beispiele; der Vortrag wird als Textfassung bei ›Testament‹ als PDF-Datei zur Verfügung gestellt. Neben einer kurzen Einführung in das Skizzenmaterial und den Aufbau des Werkes nebst der motivischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sätzen, gibt Cooke – wohl wissend um den schmalen Grad eines derartigen Unterfangens – einen Einblick in seine Arbeit: anhand der beiden Scherzi und des Finales verdeutlicht er seine Art der Instrumentation und der Erweiterung des musikalischen Satzes durch behutsam gesetzte Füllstimmen oder Harmonien. Mit dem Orchester als beispielgebendes Instrumentarium wird das nüchterne Skizzenmaterial und die Ausarbeitung von Cooke hörend nachvollziehbar.

Die zweite CD (67.42) präsentiert die unvollständige Studioaufnahme derselben Rundfunksendung mit dem Philharmonia Orchestra und Berthold Goldschmidt. Aus dem 2. Satz erklingen vier Teile (Scherzo und Trio 1 – Trio 2 – Slow episode – Coda) aus dem 4. Satz drei Teile (Opening of Scherzo and Trio – Restatement of Scherzo and Trio – Final restatement of Scherzo, Trio and Coda); der 1. Satz (21.20), 3. Satz (4.15) und das Finale (21.20) erklingen komplett. Die Art, wie Goldschmidt sich dem Torso interpretatorisch nähert, ist wohltuend entmystifizierend. Schon der Beginn des Adagios – die wohl heikelste Stelle der ganzen Symphonie – gerät ohne jegliche Sentimentalität, wird als Andante vor dem eigentlichen Adagio in seiner gesamten Sanglichkeit ausgesungen. Wenn das Philharmonia Orchestra in den rhythmisch hochkomplexen Scherzi – hier besonders im 2. Satz – mit der neuen Partitur an seine Grenzen stößt, ist das sicherlich auch dem Zerfall dieser Sätze in Einzelteile geschuldet, die keinen kontinuierlichen Spielfluss ermöglichen; der Modernität dieser Sätze tut dies jedoch keinen Abbruch. Ähnlich dem Adagio gerät Goldschmidt das Finale, dem Zielpunkt seiner Interpretation. Bei der Art, wie hier das Flötensolo nach der Einleitung erklingt, ist es verständlich, dass Deryck Cooke beim ersten Hören wußte, seine Arbeit an den Skizzen sei nicht vergeblich. Auch soll der Überlieferung nach bei Alma Mahler an dieser Stelle endgültig der Bann zur Zustimmung für eine Weiterarbeit an den Skizzen gebrochen sein. Diese Stelle, in vielen anderen Interpretationen oftmals mit Pathos und hinzugefügter Emotion aufgeladen, erscheint in ihrer Schlichtheit hier wie aus einer anderen Welt.

Die dritte CD (72.29: 1. Adagio, 23.05 – 2. Scherzo, 11.37 – 3. Purgatorio, 4.07 – 4. Scherzo, 12.00 – 5. Finale, 21.35) bietet die eigentliche Uraufführung der kompletten klingenden Skizzen im Rahmen der London Proms am 13. August 1964 mit dem London Symphony Orchestra und wiederum Berthold Goldschmidt als Dirigenten. Auch diese Wiedergabe ist von einer wohltuenden Emotionalität gekennzeichnet, die alle übersteigerte Sentimentalität und Todessehnsucht vermissen lässt. Das London Symphony Orchestra agiert auf hohem Niveau, und in beiden Aufnahmen fängt die damalige Tontechnik – trotz der dem Rundfunk geschuldeten monofonen Aufnahme – die Transparenz von Goldschmidts Dirigat in vollem Umfang ein.